Franz und Paul Schönthan
Der Raub der Sabinerinnen
Regie: Robert Preuss
- Rings um den Palatin wuchs das junge Rom. Um die
Zahl der Einwohner zu mehren, eröffnete Romulus eine Freistätte für jedermann,
und nun strömten von allen Seiten Verbannte, Heimatlose und Verfolgte herbei.
- Romulus nahm sie alle als Bürger seiner Stadt auf.
Er gab ihnen Gesetze, und aus dem Volke wählte er die hundert Ältesten aus,
die ihm im Senat, dem ÄItestenrat, bei der Regierung zur Seite standen.
Allmählich blühten neben der Ackerwirtschaft auch Handel und Gewerbe auf.
- Bei aller Kraft und allem Fleiß der Umsiedler machte
sich jedoch ein Mangel immer deutlicher bemerkbar: es fehlte der neuen
Stadtgemeinde an Frauen. Wie sollte sie ohne Nachkommen bestehen können?
- Aus dieser Sorge um die Zukunft schickte Romulus
Gesandte zu den Nachbarvölkern, um mit ihnen Eheschließungen zu vereinbaren.
Voller Verachtung blickten die Nachbarn auf die junge Gründung, deren
Einwohner, so meinten sie, sich aus Verbrechern und Ausgestoßenen
zusammensetzten. Aber insgeheim blickten sie nicht ohne Furcht für sich und
ihre Nachkommen auf die aufblühende Römerstadt, die ihnen wie ein feindliches
Kriegslager erschien. Und so wies man sie überall mit höhnenden Reden ab.
- Tief gekränkt über solche Schmähung, beschloß
Romulus, mit List und mit Gewalt durchzusetzen, was man ihm freiwillig nicht
gewähren wollte. Er veranstaltete feierliche Spiele zu Ehren des Meeresgottes
Neptun und ließ alle Nachbarstämme einladen. Besonders aus dem Sabinervolke
kamen viele Besucher mit Frauen und Töchtern, um die neue Hügelstadt
kennenzulernen.
- Die einfachen Hütten der Römer waren festlich
geschmückt, und die Spiele nahmen einen prächtigen Verlauf. Als sich die
Besucher an den folgenden Tagen auf den Märkten drängten und nur Augen hatten
für die Waren und Kostbarkeiten in den Ständen der Händler, erscholl plötzlich
ein verabredetes Zeichen, und im selben Augenblick stürzten sich die römischen
Jünglinge mit gezogenem Schwert in die dichtgedrängte Menge der Kauflustigen -
und jeder raubte sich eine Jungfrau, die er, allen Widerstand der empörten
Gäste, mit dem Schwerte abweisend gewaltsam in sein Haus trug.
- So schnell hatte sich alles abgespielt, daß die
Angehörigen der so frech Entführten kaum begriffen hatten, was geschehen war.
Nach allen Seiten stoben sie voll Bestürzung auseinander, und mit Wehklagen
verließen sie die Stadt, die das heilige Gastrecht so schmählich verletzt
hatte.
- Voller Empörung rüstete man zum Rachefeldzug gegen
die frechen Räuber. Die meisten der geraubten Jungfrauen stammten aus dem
Volke der Sabiner, die nach ihrer Hauptstadt Cures auch Quiriten genannt
wurden, und bald erschienen die Sabiner, geführt von ihrem König Titus Tatius,
vor den Mauern der Stadt Rom. In einem Tale, das sich zum Fuße des
Kapitolinischen Hügels hin erstreckt, standen sich die beiden Heere in
erbittertem Kampfe gegenüber. Die Schlacht wogte hin und her, ohne daß eine
Entscheidung abzusehen war - plötzlich hielten beide Parteien im Kämpfen inne;
denn mitten zwischen die Reihen der Kämpfenden stürzten sich mit fliegenden
Haaren die römischen Frauen, die geraubten Sabinerinnen! Furchtlos drängten
sie sich zwischen die Kriegsparteien.
- "Haltet ein!" riefen sie und wandten sich nach
beiden Seiten - zu den Sabinern, in deren Reihen ihre Väter und Brüder
standen, und zu den Römern, die inzwischen ihre Ehemänner geworden waren.
- "Haltet ein! Wer immer siegen mag, er mordet unsere
Lieben. Macht uns nicht zu Witwen und zu Waisen!'' Und so flehentlich klangen
ihre Rufe über das Schlachtfeld hin, daß Sabiner wie Römer, Bogenschützen und
Steinschleuderer, die Waffen sinken ließen.
- Tiefe beklemmende Stille lag über dem Kampfplatz.
Doch dann brauste das Jubelgeschrei auf - Sabiner und Römer hatten erkannt,
daß die Stunde der Versöhnung gekommen war, da die jungen Sabinerinnen sich
als Stammütter eines neuen Volkes bekannten.
- Romulus und Titus Tatius traten in die Mitte und
reichten sich die Hand. "Laßt uns einen Vertrag schließen", erklärte der
Römerkönig, und gern willigte der Sabiner ein.
- Beide Völker taten sich nun zu einem zusammen unter
der Bedingung, daß ihre beiden Herrscher gemeinschaftlich in Rom die Regierung
ausüben sollten.
- Das war der Anfang von Roms Macht, die sich nun
stetig erweiterte. Bald zogen die Sabiner oder Quiriten in großer Zahl in die
Nähe des Palatin und besetzten den gegenüberliegenden Hügel, den sie Quirinal
nannten.
- Der Sabinerkönig machte sich später freilich durch
Gewalttätigkeit beim Volke verhaßt, und als in Lavinium ein Aufstand ausbrach,
wurde er von der empörten Volksmenge erschlagen. Romulus regierte von nun ab
allein in Rom.
- Manchen Streit hatte er während seiner Regierung mit
den Völkern ringsum zu bestehen, die der jungen, aufblühenden Stadt das
Wachstum nicht gönnten. Aus allen Kämpfen aber ging Romulus mit seiner
wehrhaften Mannschaft, die er in Legionen eingeteilt hatte, siegreich hervor.
Die Stadt wuchs stetig an Macht und Landbesitz.
- Romulus regierte in Gerechtigkeit und Weisheit, er
gab dem Volke Ordnung und Gesetz und wurde in langen Friedensjahren ein wahrer
Vater des Vaterlandes.
- Als der König sich altern fühlte, rief er sein Volk
auf dem großen Feld zwischen Palatin und Kapitol zusammen, um den Römern noch
einmal die strenge Beherzigung der Gesetze ans Herz zu legen. Da erhob sich
plötzlich unter Donner und Blitz ein schrecklicher Sturm, im Tosen der
Elemente senkte sich eine Wetterwolke herab und hüllte König Romulus, der auf
einem goldenen Thronsessel saß, in undurchdringliches Dunkel.
- Als das Volk, das bei Ausbruch des Unwetters
geflohen war, zurückkehrte, war des Königs Thron leer. Niemandem war
zweifelhaft, daß der Kriegsgott Mars seinen Sohn zu den Unsterblichen entrückt
hatte.
- Einem von allem Volk hochgeachteten Römer, Prokulus
Julius mit Namen, erschien Romulus im Traum in göttlicher Gestalt und
verkündete, er wolle als Schutzgott Quirinus gnädig über das Geschick seiner
Stadt Rom wachen. Sein Vermächtnis an die Römer lautete: "Nach dem Willen der
Götter werden die Römer die höchste Macht erreichen, wenn sie Tapferkeit und
Mäßigung üben!"
- Als der edle Prokulus Julius seinen Traum öffentlich
kundgab, fiel das Volk auf die Knie und gelobte, dem Gott Quirinus einen
herrlichen Tempel zu bauen, der auf dem Gipfel des Quirinals erstehen sollte.
- Quellenangabe: